Am 23. Februar 2019 hat die Bundeshausfraktion der FDP.Die Liberalen (FDP) entschieden, «Ja aus Vernunft» zum Rahmenabkommen zu sagen und auf Nachverhandlungen mit der EU ausdrücklich zu verzichten. Wie dieser Beitrag aufzeigt, stellt dies nicht nur eine Abkehr von der FDP-Position der letzten Jahre dar, sondern widerspricht auch eindeutig dem Positionspapier Eckpunkte einer selbstbewussten Europapolitik, welches die Delegierten am 23. Juni 2018 in Airolo einstimmig verabschiedet haben. Zwar gibt es einen Blogbeitrag von Fraktionschef Beat Walti, welcher suggeriert, dass der Entscheid der Fraktion mit dem Papier von Airolo übereinstimme. Dies ist jedoch nachweislich falsch. Aber alles der Reihe nach.

Wahrung der Schweizer Interessen

Das Positionspapier Eckpunkte einer selbstbewussten Europapolitik ist in drei Hauptabschnitte gegliedert. Der erste Abschnitt des Papiers – unter dem Titel “Wahrung der Schweizer Interessen” – enthält drei Forderungen:

  1. Diskriminierungsfreier und ungehinderter Zugang zum EU-Binnenmarkt;
  2. Eingeschränkter Geltungsbereich des institutionellen Mechanismus auf die fünf bestehenden sektoriellen Marktzugangsabkommen;
  3. Meistbegünstigungsklausel, für den Fall, dass Drittstaaten (einschliesslich Grossbritannien) vorteilhaftere Regelungen aushandeln können.

Die ersten beiden Forderungen werden durch das Rahmenabkommen erfüllt. Die dritte Forderung ist im Rahmenabkommen nicht berücksichtigt. Die Forderung ist somit nicht erfüllt. Aus Sicht der FDP-Fraktion und des Generalsekretariats ist dies jedoch kein Problem. Man könnte fast meinen, die Schweiz habe so gut verhandelt, dass auch in Zukunft niemand anders eine bessere Regelung mit der EU aushandeln könne und diese Klauseln mithin unnütz wäre Das ist eine Anmassung von Wissen und zu Ungunsten der Schweiz.

Ein institutioneller Mechanismus mit Vorteilen für die Schweiz

Der zweite Abschnitt des Positionspapiers – unter dem Titel “Ein institutioneller Mechanismus mit Vorteilen für die Schweiz” – ist etwas ausführlicher als der erste und gliedert sich wiederum in drei Teile, namentlich in Rechtsentwicklung, Rechtsaulegung und Überwachung und Streitbeilegung. Insgesamt enthält der zweite Abschnitt acht Forderungen:

  1. Keine automatische Rechtsübernahme;
  2. Wahrung unseres demokratischen, ordentlichen Rechtssetzungsverfahrens inklusive dem Referendum bei der Übernahme neuer Binnenmarktregeln;
  3. Mitwirkungsmöglichkeit für die Schweiz bei der Weiterentwicklung des Binnenmarktrechts;
  4. Eigenständige Auslegung des bilateralen Rechts jeweils auf dem eigenen Territorium;
  5. Eigenständige Überwachung der Einhaltung der bilateralen Verträge jeweils auf dem eigenen Territorium;
  6. Streitbeilegung im Gemischten Ausschuss (GA);
  7. Nachgelagertes Schiedsgericht zur unabhängigen Beurteilung der Verhältnismässigkeit von eventuellen Ausgleichsmassnahmen, wenn es keine Einigung im GA gibt. Ausgleichsmassnahmen können von beiden Seiten ergriffen werden;
  8. Wegfall des obsolet gewordenen Automatismus der Guillotine-Klausel (Bilaterale I), falls es zu einer institutionellen Regelung kommt.

Die ersten beiden Forderungen scheinen erfüllt zu sein, wäre da nicht Artikel 14 Abs. 2 des Rahmenabkommens, welcher vorsieht, dass die Schweiz neues EU-Recht grundsätzlich vorläufig übernimmt und damit automatisch anwendet. Es ist also so, dass die Schweiz Recht – zwar nur vorläufig – automatisch übernimmt. Dies stellt eine klare Verletzung der ersten Forderung dar. Zudem beeinträchtigt es unser demokratisches, ordentliches Rechtssetzungsverfahren: Denn soll man Recht, welches bereits vorläufig bereits übernommen wurde und anwendet wird, plötzlich nicht mehr übernehmen? Es entsteht durch diese Regelung ein natürlicher Druck, das europäische Recht in jedem Fall und immerwährend zu übernehmen. Somit bleibt auch die zweite Forderung im Grunde genommen unerfüllt. Die dritte Forderung, welche eine Mitwirkungsmöglichkeit für die Schweiz fordert, ist hingegen durch das Rahmenabkommen und die Bilateralen erfüllt. Die beiden darauffolgenden Forderungen nach eigenständiger Auslegung und Überwachungen sind hingegen nicht oder nur teilweise erfüllt. Eine eigenständige Auslegung des bilateralen Rechts durch die Schweiz ist nach Artikel 4 Abs. 1 und 2 nicht möglich. Die Schweiz muss sich dabei an die Auslegung des EuGHs halten. Eine eigenständige Überwachung durch die Schweiz ist ebenfalls nur bedingt möglich, wie die Artikel 6 und 7 zeigen. Auch die beiden Forderungen der FDP zum Streitbeilegungsmechanismus sind beim vorliegenden Abkommen nicht erfüllt. Die Streitbeilegung geschieht in erster Linie durch ein Schiedsgericht und nicht durch den Gemischten Ausschuss. Zudem ist der EuGH zuständig für die Auslegung des europäischen Rechts. Da dazu auch das bilaterale Recht gehört, entscheidet de facto der EuGH, ob die Schweiz gewisse Rechtsakte übernehmen muss oder nicht (siehe hier zu Gutachten Baudenbacher). Anders als dies die FDP in ihrem Positionspapier gefordert hat, kommt das Schiedsgericht nicht nur bei der Beurteilung der Verhältnismässigkeit von eventuellen Ausgleichsmassnahmen zum Zuge, sondern auch bei der Streitbeilegung. Heute behauptet Beat Walti und die Parteispitze, dass diese Differenz nicht wesentlich sei – «[a]ber dieser Zwischenschritt ist nicht entscheidend.» Wie eine solche fundamentale      Änderung des Streitbeilegungsmechanismus, welcher letztlich das Herz des Rahmenabkommens ausmacht, nur eine Nebensächlichkeit und nicht entscheidend sein soll, leuchtet in keiner Weise ein. Es ist zudem so, dass es an der Delegiertenversammlung in Airolo genau dazu eine Diskussion gab. Dabei bestätigt Bundesrat Ignazio Cassis, dass die FDP in ihrem Positionspapier etwas ganz anderes fordere, als der Bundesrat angedacht habe. Es bleibt deshalb nur das Fazit, dass die Forderungen der FDP bzgl. der Streitbeilegung eindeutig nicht erfüllt sind. Auch die letzte Forderung erfüllt das Rahmenabkommen nicht. Die Guillotine-Klausel der Bilateralen I bleibt unverändert bestehen. Ja, es kommt sogar noch schlimmer, auch das Rahmenabkommen selbst kennt solche Klauseln (siehe Artikel 22). Die Forderung der FDP ist somit nicht nur nicht erfüllt, sondern die Situation hat sich diesbezüglich sogar noch verschlechtert. Von den elf aufgestellten Forderungen der FDP im Positionspapier von Airolo sind somit gerade mal drei erfüllt. Die restlichen acht Forderungen sind entweder nur teilweise oder gar nicht erfüllt.

Sonderinteressen der Schweiz

Kommen wir nun zum dritten und letzten Abschnitt des Positionspapiers. Dieser Abschnitt greift die roten Linien auf, welche die FDP bereits am 27 Juni 2015 in Amriswil in ihrem Positionspapier “Bilaterale sichern und weiterentwickeln” definiert hat. Die roten Linien lauten wie folgt:

  • Transit-Verkehr (LSVA);
  • Garantie des Inländervorrangs;
  • Garantie der bestehenden flankierende Massnahmen, keine neuen FlaM;
  • Keine Übernahme der Unionsbürgerrichtlinie;
  • Keine Regelung der staatlichen Beihilfen.

Die ersten beiden roten Linien werden durch das vorliegende Abkommen nicht tangiert. Beim Lohnschutz und den flankierenden Massnahmen sieht es etwas anders aus. Zwar verankert das Rahmenabkommen die drei Kernelemente der FlaM (Voranmeldefrist, Kautionspflicht, Dokumentationspflicht), jedoch nicht in der heute bestehenden Form. Alle drei Massnahmen sollen etwas zurückgebaut werden. Wenn wir es also juristisch genau nehmen ist diese rote Linie überschritten. Aus politischer Sicht würde ich hier jedoch der Argumentation von Beat Walti zustimmen: «Das ist ein grosser Verhandlungserfolg der Schweiz – wir werden gegenüber allen EU-Staaten privilegiert. Der Schutz der Löhne in der Schweiz ist mit dem InstA daher nicht gefährdet.» Nun kommen wir zum wohl umstrittensten Thema, der Unionsbürgerrichtlinie. Die Unionsbürgerrichtlinie kommt zwar im Abkommen nicht vor und die rote Linie ist somit vordergründig nicht verletzt. Es ist jedoch so, dass die Europäische Union die UBRL als eine Weiterentwicklung des Personenfreizügigkeitsabkommen (PFZ) betrachtet. Durch das Rahmenabkommen würde sich die Schweiz dazu verpflichten, solche Weiterentwicklungen zu übernehmen. Es ist zwar umstritten, ob die UBRL eine Weiterentwicklung des PFZ darstellt, da jedoch im Streitfall der EuGH das bilaterale Recht auslegt, ist schon heute absehbar, dass die Schweiz zumindest einen Teil der Richtlinie übernehmen müsste oder andernfalls Ausgleichsmassnahmen zu gegenwärtigen hätte. Deshalb muss mit Ernüchterung festgestellt werden, dass diese rote Linie (zwar nur indirekt, aber voll und ganz) verletzt ist. Ähnlich verhält es sich bei der letzten roten Linie. In einem einzigen Bereich sieht das Abkommen eine Regelung der staatlichen Beihilfen vor, nämlich im Bereich Flugverkehr. Just in diesem Bereich sind die Beihilfen aber bereits heute geregelt. Für die restlichen bilateralen Abkommen ist im Rahmenabkommen nichts geregelt. Auch dies kann jedoch in Form von Nachvollzug von neuem EU-Recht, wie bei der UBRL, zum Problem werden. Grundsätzlich kann man hier jedoch der Interpretation der Fraktion zustimmen. Diese rote Linie dürfte nicht überschritten worden sein.

Fazit

Anders als die Parteileitung behauptet, gibt es zwischen dem vorliegenden Rahmenabkommen und dem Positionspapier von Airolo grosse Differenzen. Es ist deshalb nicht nachvollziehbar, dass nun davon gesprochen wird, dass das Abkommen mit dem Delegiertenentscheid und dem Inhalt des Positionspapiers kompatibel sei. Die meisten Forderungen aus dem Positionspapier erfüllt das Rahmenabkommen nicht und mehrere der roten Linien werden durch das Abkommen zum Teil in Frage gestellt. Als jemand, welcher sich im Sommer 2018 intensiv mit dem Positionspapier auseinandergesetzt hat und mehrere Anträge dazu gestellt hat, fühle ich mich durch den Entscheid der Parteispitze – gelinde gesagt – für blöd verkauft. Weshalb verabschiedet die Partei überhaupt solche Positionspapiere, wenn sich die Fraktion am Ende sowieso nicht daran hält?


Quellen:

Text Rahmenabkommen

Blogbeitrag von Beat Walti

Positionspapier Eckpunkte einer selbstbewussten Europapolitik

Gutachten Baudenbacher